Suppenanstalt Rheinwaldhorn
Samstag, 23. Oktober 2021
Erreicht man im Tessin eine gewisse Höhe und geniesst die Aussicht in Richtung Nordosten, zieht das Rheinwaldhorn (Adula) bald die Blicke auf sich. Mit 3402 m.ü.M. ist das Rheinwaldhorn der höchste Tessiner Gipfel und liegt auf der Kantonsgrenze zu Graubünden. Solche gut sichtbaren, markanten Gipfel faszinieren. Wenn sich zudem gute Startmöglichkeiten in der Nähe des Gipfels abzeichnen, wird das Herz von begeisterten hike&fly-Pilot*innen oftmals höher schlagen.
Im Vorfeld des 23. Oktober wird für das Tessin herrliches, schwachwindiges Wetter prognostiziert. Die Verhältnisse führen zu reger Planungstätigkeit im PDC-Chat. Eine Gruppe begeisterter Streckenflieger möchte die Herbstthermik in Carì geniessen und verabredet sich. Christoph, Pascal, Pavol und Marco locken die guten Bedingungen, um ein spannendes hike&fly zum Rheinwaldhorn anzugehen.
Aufgrund der guten Prognose hoffen wir auf einen von der Thermik unterstützten Aufstieg und starten unsere Tour im bei vielen Pilot*innen bekannten, von einer Seilbahn erschlossenen Gebiet von Dagro. Der Aufstieg durch die herbstlichen Wälder zur Alpe di Ciou ist wunderschön. Bei der Alp angekommen, trennen sich unsere Wege kurzzeitig: Pascal und Christoph haben etwas kleinere Bergschirme dabei und steigen aus diesem Grund höher auf, um direkt zur grossen Hochebene bei der Capanna Quarnei zu gleiten. Pavol und Marco peilen einen etwas tiefer liegenden Startplatz an, um mit dem Thermikschirmen so nahe wie möglich an den Westgrat des Rheinwaldhorn zu fliegen.
Als wir kurze Zeit später Christoph mit seinem Bergschirm beim Drehen in der Thermik beobachten können, träumen wir bereits von einer Toplandung auf dem Gipfel und starten voller Motivation. Verschiedene Flug- und Wanderwege führen uns in der nächsten Stunde in Richtung unseres Ziels: Christoph und Pascal gleiten wie geplant zur Alpe di Quarnei, packen dort nach einer angenehmen Landung das Material zusammen und steigen in Richtung Passo del Laghetto hoch. Pavol nimmt den Weg über die Westseite der Cima di Gana Bianca, schaut bei den Adulahütten vorbei und landet gleich in der Nähe des Laghetto dei Cadabi. Ich entscheide mich für den Weg über die Ostseite des Massivs und lande südlich unterhalb des Passo del Laghetto. Kurze Zeit später treffen wir uns alle begeistert vom gelungenen Start auf dem Pass und freuen uns auf die bevorstehende Kraxlerei über den WSW-Grat auf den Gipfel.
Im Vorfeld haben wir auf Webcam-Bildern festgestellt, dass der Grat teilweise schneebedeckt ist. Aus diesem Grund haben wir Steigeisen und Sicherungsmaterial eingepackt. Dies würde uns auch den sicheren Abstieg über den Normalweg, welcher über Gletscher führt, ermöglichen. Die Steigeisen müssen wir dann auch montieren - die teilweise auf der Nordseite verlaufende Route ist stellenweise unangenehm vereist. Nach dem spannenden Grat erreichen wir auf 3200 m.ü.M. eine Firnflanke, durch welche wir den Südgrat erreichen. Müde, durstig und hungrig von der Kletterei, sehnen wir uns dem Gipfel entgegen. Es ist nicht besonders hilfreich, dass Pavol während dem Aufstieg über den nicht enden wollenden Firn von seiner selbstgemachten Sauerkrautsuppe schwärmt.
Die Nachmittagssonne begleitet uns über die letzten Meter auf den Gipfel. Wie so oft beim hike&fly, steigt zu diesem Zeitpunkt die Nervosität. Wie ist der Wind am Startplatz? Können wir wie geplant starten, oder erwartet uns ein langer Abstieg zu Fuss? Ein paar Meter Abstieg in die Nordflanke des Rheinwaldhorns zeigt uns, dass die Windverhältnisse nicht optimal sind, aber dank dem Gelände einen Start mit leichtem Rückenwind zulassen. Die Alternative, bis zum Adulajoch abzusteigen und dort nach Westen zu starten, behalten wir im Hinterkopf. Die Startvorbereitungen sind auf dem Firn etwas ungewohnt, mit gegenseitiger Hilfe funktioniert es aber gut. Wir besprechen den beabsichtigten Flug und starten gegen 16 Uhr nacheinander.
Nur schon der Höhenunterschied zwischen dem Rheinwaldhorn und unserem Landeplatz in Biasca von 3100 Höhenmetern verspricht einen eindrücklichen Flug. Dank der optimalen West-Ausrichtung der Hänge finden wir sogar noch zu fortgeschrittener Stunde Thermik und versuchen, den Tag bis zum Letzten in der Luft zu geniessen. Bekannterweise ist Pavol Spezialist in dieser Disziplin, so lässt er es sich nicht nehmen, auch noch einen Abstecher nach Norden zu machen, bevor wir ihn kurz nach 17.30 Uhr in Biasca am Landeplatz in Empfang nehmen können. Total begeistert vom Erlebten, müde und ausgehungert, ziehen wir los zu Pizza und Bier. Das Tessin enttäuscht uns auch kulinarisch nicht - wir besteigen den Zug durch den Gotthard zufrieden und satt.
Die positiven Nachwirkungen der Tour halten lange an. Der beste Beweis dafür ist die im darauf folgenden Frühjahr ausgesprochene Einladung der selbsternannten „Suppenanstalt Rheinwaldhorn“, wo wir bei der wirklich leckeren Slowakischen Sauerkrautsuppe in Erinnerungen schwelgen und kommende Pläne schmieden.
Marco